Fuzz-mäßiger Overdrive – Teil I

Vom Spleen zur neuen Schaltungsidee

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Der Klampfomat

Am Anfang war ein Spleen – ein amüsant geschriebener Text über einen Röhrenverstärker „Klampfomat“ (Verstärker und Text von Martin Lemke), dessen Endstufe, anders als die üblichen Gegentakt­schaltungen, ohne vorgeschalteten Phaseninverter mit etwas geringerer Leistung als selbst­symmetrierende Gegentakt­endstufe arbeitet, deren Übertragungs­verhalten dadurch stärker durch asymmetrische Begrenzungen bestimmt wird.  Der Verstärker produziert, so die Beschreibung, schon vor den wahrnehmbaren Verzerrungen einen sehr lebendigen, obertonreichen Sound.  Im Forum des Händlers TubeTown gab es eine intensive Diskussion über dieses Konzept und den realisierten Verstärker. 

Die Überlegung, wie dieses Idee „in Transistor“ umzusetzen sei, führte zuerst zu der Überlegung, hier ein Pärchen möglichst gleicher Transistoren, zum Beispiel von einem Transistorarray, zu verwenden.  Das überlagerte sich mit dem Wunsch, etwas mit dem Transistorarray CA3046 zu machen, welches schon von der Firma Retrochannel in dem einem „Rangemaster Treblebooster“ nachempfundenen „Trouble Booster“ eingesetzt worden ist. 

Das Transistorarray CA3046 enthält, neben zwei „normalen“ npn-Transistoren, ein Pärchen von zwei npn-Transistoren mit gemeinsamen Emitteranschluss, die sehr ähnliche elektrische Daten (gleicher Stromverstärkungs­faktor, gleiche Basis-Emitter-Spannung bei gleichem Emitterstrom) aufweisen, sowie einen fünften npn-Transistor, dessen Emitter fest mit dem Substrat verbunden ist.  Die Stromverstärkungs­faktoren der Transistoren liegen um den Wert 100 – die Transistoren sind „Vintage-tauglich“

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Schaltungstricks von Retrochannel

Der oben erwähnte (ehemalige?) Hersteller Retrochannel war bis Anfang der „zehner Jahre“ mit einem Transistor­verstärker und einigen schaltungstechnisch ebenso interessanten Gitarren­effekt­geräten aufgetreten.  Die hier dargestellten Informationen zum Gerät Troublebooster stammen aus einer Diskussion einschließlich Schaltungs­beschreibung im Nachbastlerforum „freestompboxes“.  Auf den dort veröffentlichten Fotografien ist zu erkennen, dass das Gerät von Dritten geöffnet und die Schaltung freigekratzt, d. h. dass ein offensichtlich vom Hersteller zur Wahrung des Geheimnisschutzes aufgetragener Schutzlack entfernt wurde. 

Bei Versuch, im Netz mehr über das Gerät herauszufinden, war dann u. a. zu erfahren, dass der maßgebliche Kopf von Retrochannel die Firma im Zusammenhang mit einer längeren Krankheit nicht mehr weiterführt – weitere und intensivere Schnüffel- bzw. Guhgeleien unterblieben anstandshalber besser. 

Deswegen und aus Gründen des Urheberrechts von Retrochannel wird hier auf die Wiedergabe der vollständige Schaltung verzichtet – es wurde lediglich der für die folgenden Betrachtungen relevante Teil der Eingangsstufe neu gezeichnet. 

Dazu ein Ausschnitt der Schaltung – gezeigt wird der eigenlichen Verstärker­stufe des Trouble­boosters / Treble­boosters (siehe Abbildung 1.1).  Die beiden gleichen Transistoren sind als eine Art Stromspiegel mit Basis­vor­widerständen verschaltet. Damit kann mit einem der Transistoren ein temperaturstabiler Arbeitspunkt für den zweiten identischen Transistor eingestellt werden – der zweite Transistor muss so zur Arbeitspunkt­einstellung nicht gegengekoppelt werden und kann damit völlig „wild“ verzerren. 

Schaltskizze

Abb. 1.1:  Prinzipielle Darstellung von Eingangs­schaltung und Arbeitspunkt­stabilisierung im Retrochannel Troublebooster.

Konkret hat T1 einen Kollektor­widerstand RC1 von 33 kΩ sowie einen Basis-Kollektor-Widerstand RBC1 von 100 kΩ.  Seine Kollektor­spannung liegt bei etwa(!) 1 Volt, die Spannung über RC1 beträgt bei 9 V Betriebs­spannung etwa 8 Volt, es fließt ein Kollektorstrom von etwa 2,5 µA.  Nun ist aber nicht nur die Basis von T1, sondern auch die von T2 über einen Widerstand 100 kΩ mit dem Kollektor von T2 verbunden.  Beide Transistoren haben so den gleichen Basis- und, da die Transistoren nahezu gleich sind, auch den gleichen Kollektorstrom.  T2 hat aber einen Kollektor­widerstand RC2 von lediglich 10 kΩ; die Spannung über diesen Widerstand ist 3,3-mal geringer und liegt bei etwa 2,5 Volt.  Demzufolge hat T2 einen Arbeitspunkt UC ≈ 6,5 Volt, wobei der Arbeitspunkt des Troubleboosters relativ stabil gegenüber von Schwankungen der Betriebs­spannung, der Temperatur usw. ist, ohne dass die eigentliche Verstärkerstufe gegengekoppelt werden muss.  Der Kondensator zwischen Kollektor und Basis von T1 dient hier als eine Art D-Regler der dynamischen Stabilisierung des Arbeitspunktes

Retrochannel hat hier also zwei Tricks oder Schaltungs­prinzipien eingesetzt – zum einen die relativ stabile Kollektor­spannung von T1 und zum anderen die „Spiegelung“ des Basisstroms von T1 auf den daten- und temperaturgleichen T2

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Nichtlinearität und Widerstände

Wie wurden diese Anregungen von Retrochannel nun in die „Transistor-Klampfomat“-Schaltung übernommen?  Zum besseren Verständnis hier in Abbildung 1.2 erst einmal die prinzipielle Schaltung der entworfenen Klippstufe: 

Schaltskizze

Abb. 1.2:   Prinzip der geplanten asymmetrischen Begrenzer­schaltung. 

Das erstgenannte Prinzip des Stromspiegels für die Basisströme wurde zur Stabilisierung der Begrenzerstufe übernommen – allerdings wurde dazu nicht das Transistorpärchen T3 und T4, sondern der Transistor mit dem Emitter an Masse bzw. Substrat T5 verwendet, doch dazu später.  Mit dem Transistorpärchen sollte, analog zur oben erwähnten Klampfomat-Endstufe, ein (nicht!)linearer Differenz­verstärker als asymmetrisch und weich klippende Begrenzerstufe realisiert werden.  Aber wie bekommt man einen solchen Differenz­verstärker weich klippend? 

Für einen hochlinearen Differenz­verstärker ist ein großer gemeinsamer Emitterwiderstand notwendig; man verwendet hier idealerweise eine (hochohmige) Stromquelle.  Für einen nichtlinearen Differenz­verstärker müsste dieser gemeinsame Emitterwiderstand dann wohl eher kleiner sein. 

Bei der Schaltung des oben genannten Klampfomats bzw. bei dessen selbst­symmetrierender Gegentaktendstufe war eine Zahlenspielerei aufgefallen – der gemeinsame Kathodenwiderstand ist mit 270 Ω etwa so groß ist wie die reziproke Steilheit jeder der beiden Endstufenröhren (≈ 3,6 mA / V).  Das könnte dazu führen, dass sich die Nichtlinearitäten der Röhren (die Steilheit ändert sich mit der Eingangsspannung) gut auf den Aus­steuerungs­bereich verteilen und nicht in dessen Ränder geschoben werden. 

Diese Überlegung auf den Differenz­verstärker übertragen bedeutet, dass der gemeinsame Emitterwiderstand etwa so groß sein müsste wie der Widerstand an der Basis, dividiert durch den Stromverstärkungs­faktor.  Der Basiswiderstand 100 kΩ wurde zunächst aus der oben beschriebenen Schaltung von Retrochannels Troublebooster übernommen, daraus ergab sich, bei einem Stromverstärkungs­faktor von etwa 100 (laut Datenblatt), ein gemeinsamer Emitterwiderstand von 1 kΩ. 

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Arbeitspunkte

Über die Widerstände 100 kΩ werden auch die Arbeitspunkte der beiden Transistoren festgelegt.  Dafür ist eine stabilisierte Spannung notwendig und an diesem Punkt sei wieder an die Verschaltung von T1 in Retrochannels Troublebooster, an dessen Kollektor eine von Temperatur­schwankungen unabhängige Spannung zur Verfügung steht, erinnert (siehe Abbildung 1.1).  Der auf dem Transistorarray CA3046 vorhandene letzte Transistor T5 (mit Emitter direkt an Masse bzw. Substrat) kann für die neue Schaltung in ähnlicher Weise eingesetzt werden – er erhält einen festen Kollektor­widerstand vom 6,8 kΩ gegen Betriebs­spannung (der Wert wurde in der Simulation mit PSPICE ermittelt) und als Basis-Kollektor-Widerstand einen Trimmer 100 kΩ.  So kann an T5 eine feste Kollektor­spannung zur Einspeisung der Basisströme (Bias) des Transistorpärchens eingestellt werden.  Die obige Abbildung 1.2 zeigt das erläuterte Prinzip noch einmal in einer Skizze, eine genauere Erläuterung der Funktion sowie eine Simulation der statischen Kennlinie findet sich im Kapitel Die Begrenzerstufe